05. Zur Sache, Schätzchen!

Samstag, 3. Mai 2008

05. Zur Sache, Schätzchen!

„Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ Dieser stereotype Schlachtruf der 68er war ein Machospruch. Aber es war natürlich nicht so, dass die Hormone vom politischen Widerstand gegen gesellschaftliche Konventionen gesteuert wurden.
Sex mit vielen Partnern hatte man nicht wegen, sondern trotz des Establishments. Außerdem: wenn Establishment als Schlagwort für die herrschenden Kräfte benutzt wurde, deren Tun immer nur auf die Festigung ihrer Macht gerichtet ist, dann bitteschön, waren doch wohl eher die Hormone das wahre Establishment.
Das verquaste Vokabular der 68er konnte nur unschwer darüber hinwegtäuschen, dass es schließlich doch nur um den ewigen Tanz der Hormone ging. Und der wurde ja nicht erst in den wilden 68ern erfunden. Es gab ihn schon vorher. Ende der 60er wurde der Tanz der Hormone erstmals öffentlich, er wurde zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Neu war, neu wurde, dass man nun über Sex sprach. Nicht länger hinter vorgehaltener Hand, sondern eben öffentlich. Neu war auch, dass die Frauen nicht mehr bis zur Ehe auf den Sex warten wollten. (Der sogenannte Kupplereiparagraph, der das Zusammenleben als „Unzucht“ unter Strafe stellte, wurde erst 1972 abgeschafft!) Und wäre nicht Anfang der 60er Jahre die Pille auf den Markt gekommen, die Geschichte wäre sicher anders verlaufen.
Eine Aufklärungswelle schwappte wie ein erregendes, wie ein duftendes Aphrodisiakum über das Land. Und eine ganz kleine Welle erreichte auch mich. Von einer erregenden Wirkung allerdings konnte noch keine Rede sein.
Ich glaube mein Vater brachte es von irgendeiner Reise oder einer Kegeltour mit und mit welchen Worten es ausgehändigt wurde, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls blätterte ich wochenlang gebannt in diesem quadratischen Buch, das einen babyblauen Umschlag hatte und in farbigen Scherenschnitten zuerst kopulierende Hühner und dann Hunde zeigte, anschließend – immer fein säuberlich aus farbigem Papier ausgeschnitten und wirklich sehr dekorativ – im Querschnitt das Eindringen eines Hundepenis‘ in die Vagina der Hündin, und schließlich den Kopf eines Mannes und einer Frau, die sich umständlich und mit geschlossenen Augen küssten. Es gipfelte darin, dass der Rest ihres Körpers unter einer fast die gesamte Seite ausfüllenden Bettdecke verborgen war. Das also war das Abenteuer der Liebe? Das Buch war so lustlos wie sein Titel: „1 + 1 = 3“.
Während meine Fragen über die Mysterien von Fortpflanzung und Sexualität also unbeantwortet blieben, ließen sich dafür wenigstens die Erwachsenen erstmal richtig aufklären. Mit Filmen wie „Deine Frau - das unbekannte Wesen“ oder „Das Wunder der Liebe“ brachte Oswald Kolle frischen Wind in die deutschen Schlafzimmer. Auch das war Teil der sogenannten sexuellen Revolution. Wenn auch der biederen. Denn verglichen mit dem „Je t’aime…“, das Jane Birkin zum sanften Hammond-Orgel-Sound von Serge Gainsbourg erst hauchte und dann stöhnte, war alles andere tote Hose.
Die Sittenwächter waren hilflos. Je lauter sie schrien, je mehr sich Eltern, Lehrer und Politiker empörten und gegenzusteuern versuchten, umso selbstbewusster fielen Hüllen und Hemmungen. Es war der Überdruck, dem der Topfdeckel der Elterngeneration nicht länger standhielt. Von den zugeknöpften 50er Jahren hin zu den Zeiten des „summer of love“, der „Kommune 1“, der selbstbestimmten Sexualität und auch hin zu Dr. Sommer in der „Bravo“ vergingen keine 10 Jahre.
Heute, vierzig Jahre später, hat sich eine große Ernüchterung breitgemacht. Wir sind alle ein bisschen abgestumpft und abgeklärt, scheint mir. Aus der Euphorie einer ganzen Generation ist eine aufgeklärte Gesellschaft geworden - in der rund ein Viertel als Singles leben: sexuelle Nomaden und einsame, unbekannte Nachbarn.
Tabus und Verklemmtheit, sexuelle Zwänge und Doppelmoral gehören zum Glück weitgehend der Geschichte an. Die Orientierung aber ist schwieriger geworden in Zeiten großer errungener Freiheit.

01. Flimmern und Rauschen
02. Die Rillen der Revolution
03. Haare
04. Der gute Rausch
05. Zur Sache, Schätzchen!
06. Odyssee im Kino
07. Theorie & Tohuwabohu
08. In Boots nach Summerhill
09. The doors of perception
10. Raubtier und Gefährte: time is fading
20. Literatur
30. Zum Schluss: Rechte und Haftung
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