08. In Boots nach Summerhill

Sonntag, 4. Mai 2008

08. In Boots nach Summerhill

Schwämme, Kreide und Schlüsselbünde als Wurfgeschosse gehörten in der Kreisklasse des damaligen Schulalltags zu den beliebten erzieherischen Waffen vieler Lehrer, genauso wie Ohrfeigen. Eine besonders sadistische, weil nicht spontane Spielart schulischer Gewalt waren die sogenannten „heißen Öhrchen“. Was wie ein schmackhaftes Kleingebäck klang, gehörte natürlich in Wahrheit zum reichen Repertoire eines antiquierten Pädagogikverständnisses. Um sich „heiße Öhrchen“ abzuholen, trat man vor das Lehrerpult und ließ sich die Ohrmuschel, eingeklemmt zwischen den kalten Fingern des pädagogischen Zuchtmeisters, in einer langsamen und unnachgiebigen Drehbewegung langziehen. Erniedrigender wurde die Prozedur nur noch dadurch, dass der Lehrer es nicht einmal für nötig hielt dabei aufzustehen und seine Macht also ganz lässig, selbstgerecht und gewissermaßen en passant auslebte. Ich hatte zwei- oder dreimal das Vergnügen. Dann war das Schuljahr zu Ende und wir bekamen einen anderen Lehrer. Statt heißer Ohren gab es in diesem Jahr nur Klassenbucheinträge.

Wir spürten zunehmend, dass die Tage der autoritären Bastionen gezählt waren. Und die pädagogischen Dinosaurier waren eben Dinosaurier, die eines Tages ihr Leben als ausgestopfte Exemplare nur noch in unserer Erinnerung fristen würden.
Zum Ensemble der pädagogischen Dinosaurier unserer Schule gehörte auch ein drakonischer, aber immerhin nicht bösartiger Lehrer, der uns im Erdkundeunterricht auf Zuruf von seinen Kriegserlebnissen aus dem „Memelland“ erzählte - und darüber den Unterrichtsstoff vergaß. Aber nicht, ohne am Ende der Stunde voller Verachtung festzustellen, dass wir allesamt verweichlichte und lebensuntaugliche Nichtsnutze seien, Hascher, Versager und Gammler.
Der als Herabwürdigung gemeinte Begriff „Gammler“ verfehlte sein Ziel völlig. Er amüsierte mich vielmehr, denn er war irgendwie harmlos und sogar ein bisschen schmeichelhaft. Für mich stand er für eine müde, gelassene und vielleicht auch antriebslose Promenadenmischung, die irgendwo in der Sonne liegt, und die man, würde sie nicht so furchtbar stinken, und wäre das Fell nicht voller Ungeziefer, am liebsten mit nach Hause genommen hätte, um sich vom Ausdruck ihrer tiefen Sorglosigkeit und Zufriedenheit ein bisschen anstecken zu lassen.
Natürlich mussten „Gammler“ und andere „Subjekte“, die sich dem Leistungsanspruch einer Generation, die den 2. Weltkrieg und die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre erlebt hatten und vielfach ihrer Kindheit beraubt worden waren, entzogen und widersetzen, als ungeheure Provokation empfunden werden. Aber der Bruch zwischen den Generationen war kein vorübergehender, keiner, der durch das Ende unseres hormonellen Ausnahmezustands, wieder zu kitten gewesen wäre. Nicht Ordnung, Pflichtbewusstsein und unkritisches Widerkäuen waren angesagt. Die Zukunft hielt anderes bereit.

Die gefühlte Mehrzahl der Studenten an deutschen Hochschulen am Ende der 60er Jahre hatte sich für Pädagogik, Soziologie oder Politikwissenschaften eingeschrieben. Erziehung und Gesellschaft bestimmten die öffentliche Diskussion. Die Erfahrungen, die viele junge Menschen in ihren Familie machten, wurden zum Modell einer autoritären Gesellschaft erklärt, dem neue progressive, an Freiheit und Selbstbestimmung orientierte Modelle entgegengesetzt wurden. War das der Beginn des langen Marsches durch die Institutionen?
Irgendwann kursierte das Traktat „Das Prinzip Summerhill“ unter uns Schülern. Wir begannen uns in der Schülermitverwaltung zu engagieren, schrieben und zeichneten für die Schülerzeitung und entdeckten die Provokation als wichtigen Motor unserer persönlichen Entwicklung. Und dabei kam uns jeder Widerstand entgegen: als willkommene und aufmunternde Bestätigung. Wo in den 30er Jahren noch die Gauführerschule untergebracht war und die Nazischergen in politischer Agitation unterrichtet wurden, diskutierten wir jetzt mit langen Haaren und in Boots und zerrissenen Jeans im Feuerschlösschen, dem den Oberstuflern vorbehaltenen Gebäude der Schule, Max Frisch und Heinrich Böll.
Irgendwann flogen auch keine Schwämme und Schlüsselbünde mehr durch die Klassenräume, und die ersten 68er kamen als Referendare an die Schule. Aber da hatten wir schon das Abitur in der Tasche - und sie noch ein ganzes Leben Schule vor sich.

01. Flimmern und Rauschen
02. Die Rillen der Revolution
03. Haare
04. Der gute Rausch
05. Zur Sache, Schätzchen!
06. Odyssee im Kino
07. Theorie & Tohuwabohu
08. In Boots nach Summerhill
09. The doors of perception
10. Raubtier und Gefährte: time is fading
20. Literatur
30. Zum Schluss: Rechte und Haftung
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