06. Odyssee im Kino

Montag, 5. Mai 2008

06. Odyssee im Kino

Mein Schulweg führte am einzigen Kino der Stadt vorbei. In dem schmalen offenen Vestibül, das von mehreren hässlichen, eckigen Säulen zur Straße hin abgegrenzt war, war gerade einmal Platz genug für zwei oder drei Vitrinen, in denen Plakate und Standfotos das aktuelle und das kommende Programm ankündigten. Seine Blütezeit hatte das Kino damals bereits hinter sich, und nachdem es schließlich ganz geschlossen wurde, hingen nur noch öffentliche Bekanntmachungen oder Ankündigungen von lokalen Parteitreffen in den Schaukästen. Die Farbe blätterte vorschriftsmäßig von den alten Holzkästen ab, und es war erstaunlich, dass die Scheiben noch nicht zu Bruch gegangen waren. Irgendwann wurde dann die Bestuhlung rausgerissen und ein Supermarkt zog ein. Die Vitrinen wurden ersetzt. In großen farbigen Kunststoffrahmen hingen jetzt die Sonderangebote.
Ich glaube die großen Kinofilme der späten 60er und frühen 70er Jahre wurden hier ohnehin nicht gezeigt. Es wäre schön, wenn meine Erinnerung trügt. Dann nämlich lief damals „If…“. Malcolm McDowell in der Rolle des unangepassten Schülers einer britischen Privatschule. Aufstand gegen bürgerliche Autoritäten, gegen Repressionen und sadistische Unterdrückung durch das Lehrpersonal. In der finalen Traumsequenz schießen die Schüler mit automatischen Waffen auf Lehrer, Eltern und Besucher. Zum Schluss wird dem Schulleiter in die Stirn geschossen.
Nach so viel Flower-Power, freier Liebe und endlosem politisch-gesellschaftlichem Diskurs, brach endlich die Gewalt aus. Der Film war Warnung und Drohung zugleich. Wenn freie, selbstbestimmte Lebensformen unterdrückt werden, dann ist eine gewalttätige Revolution zwingend. Das Kino wurde visionär. Es war zweifellos dasjenige Medium, das die Sehgewohnheiten und damit auch das Bewusstsein, den Blick auf die Wirklichkeit, am radikalsten und nachhaltigsten veränderte – trotz „Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten“ und „Alfred, der Bezwinger der Wikinger“, die im selben Jahr anliefen.
Aber die Erinnerung an „If…“ geht in Wahrheit auf eine Fernsehausstrahlung irgendwann Anfang der 70er zurück, als in den Vitrinen des angezählten Kinos Plakate von gnadenlosen B-Movies der Kategorien Monster, Möpse und Muskelmänner hingen. Und auch wenn manche Lüge schöner ist, als manche peinliche Wahrheit: mein erstes Kinoerlebnis war „Die Wiege des Bösen“ - weit in den 70ern. So nachhaltig immerhin, dass es mir bis heute jegliche Lust auf Horrorfilme vergrault hat. Die guten, die wirklich guten Filme der späten 60er brannten sich erst Jahre später auf meine Netzhaut und von dort aus explodierten die Bilder dann unmittelbar im Kopf. Allen voran Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum – 2001“.
Ich saß mit einem Freund in einem kleinen, ziemlich heruntergekommenen Programmkino. Kein Popcorn, keine Chips, keine Cola und vor allem: keine überfüllten Stuhlreihen. Ich glaube, außer uns saßen höchstens noch 10 oder zwölf versprengte Gestalten auf den harten Sperrsitzen. Als das Licht ausging blieb die Leinwand lange dunkel. Sphärische Klänge weckten die ersten Bilder im Kopf. Und dann begann eine Reise, die Entdeckung des Werkzeugs, die Metamorphose eines Steinzeitknochens in einen Erdsatelliten, ein Raumschiff, das zu den Klängen der „Schönen blauen Donau“ die Raumstation umtanzt. – Als wir aus dem Kino traten, regnete es in Strömen, es war dunkel. Ich konnte mich beim besten Willen nicht an irgendwelche Dialoge erinnern. Gab es überhaupt welche? Der kleine Platz vor dem Kino war menschenleer. Und wenn hinter dem glitzernden Regenschleier statt des kleinen Obelisken plötzlich ein schwarzer Monolith gestanden hätte, genau so, wie zu Beginn des Films, ich wäre nicht überrascht gewesen. Hatte ich doch gerade das Kino entdeckt.
Profaner aber nicht weniger nachhaltig war der „Yellow Submarine“-Streifen von den Beatles. Die skurrilen Bilder und Ideen von Heinz Edelmann fanden ihr Echo im Kunstunterricht. Und überhaupt: trotz der gewaltigen Macht der Bilder, gehörte die Musik nicht untrennbar dazu? Was wäre „Spiel mir das Lied vom Tod“ ohne die unverwechselbare Musik von Ennio Morricone? Was die Bond-Filme ohne John Barrys „Bildträger“, seine Musik nämlich? Und was ist mit „Easy Rider“? Einem Roadmovie, dessen Bilder bei den ersten Takten von „Born to be wild“ wieder lebendig werden, inklusive des heimischen Posters von Dennis Hopper und Peter Fonda auf ihren Harleys? – Ich glaube, Filmplakate sind heute ziemlich out.

01. Flimmern und Rauschen
02. Die Rillen der Revolution
03. Haare
04. Der gute Rausch
05. Zur Sache, Schätzchen!
06. Odyssee im Kino
07. Theorie & Tohuwabohu
08. In Boots nach Summerhill
09. The doors of perception
10. Raubtier und Gefährte: time is fading
20. Literatur
30. Zum Schluss: Rechte und Haftung
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