10. Raubtier und Gefährte: time is fading

Sonntag, 4. Mai 2008

10. Raubtier und Gefährte: time is fading

„Jemand hat mir mal gesagt, die Zeit würde uns wie ein Raubtier ein Leben lang verfolgen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefährte ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genießen, denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen ist nicht so wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben. Denn letztlich sind wir alle nur sterblich. _________________________________________________________Jean-Luc Picard

Ein Rückblick? Was ist das?
Bleib‘ stehen, halt kurz inne, wenn Du zurückblickst! Wenn Du den Kopf weit über die Schulter drehst, gerät die Gegenwart aus dem Blick. Und für einen kurzen Augenblick wird die Vergangenheit wieder zur Zukunft, einer schon gelebten allerdings, und ihr hängt das Senkblei alles Vergangenen an: die Wehmut. Da war ich, da bin ich gewesen. Von dort bin ich losgegangen. Die Zukunft - „Was hatten wir nicht alles für Pläne!“, „Alles war möglich!“, „Wir wollten die Welt verändern“ (und was der Klischees mehr sind) – die Zukunft ist vorbei. Für viele lebt sie tatsächlich nur noch in der Erinnerung, in Seufzern à la „Weißt Du noch?!“ oder „Ach ja, damals!“ mit einer langen versunkenen Stille nach dem Komma. Und die Stille ist das Paradies, von dem wir wissen, dass uns niemand daraus vertreiben kann.

Achtundsechzig-Collage

Aber was ist geblieben? Außer der Erinnerung? Besser: was ist geworden, was hatte Bestand, was hat verändert? Wer prägt was? Prägen wir die Zeit oder prägt sie uns? Was ist nicht alles in die 68er hineingelegt, hineininterpretiert worden, welche Heldentaten, welche Epochegedanken? Das Bedürfnis uns zu verewigen, zumindest zu bleiben, treibt uns vielfach dazu die erlebte Zeit zu eigener Zeit, zu unserer Zeit zu machen, sie zu einem Besitz zu erklären, zu unserem Besitz zu erklären und uns damit, auf menschlich-unzulängliche Weise, zu verewigen. Die Wahrheit ist trivialer. Eine verklärte Vergangenheit ist das Futter der Gegenwart und der Motor selbstbehauptender Zuversicht. Was nicht zur Zuversicht, was nicht zur Selbstvergewisserung taugt, das landet im Archiv des Vergessens. Nur in der Erinnerung sonnen wir uns im Bewusstsein: das haben wir gelebt, das nimmt uns niemand mehr weg!

Heute, wo die Kinder der 68er ihre Eltern mit einer Mischung aus Unverständnis und Fassungslosigkeit betrachten, heute, wo die Kinder der 68er zwischen den K.O.-Schlägen des Kapitalismus (Arbeitslosigkeit), den sozialen Verwerfungen einer freien Gesellschaft (Scheidung und Patchwork) und den Verlockungen des ebenso schnellen wie kurzen medialen Erfolges (DSDS) hin- und hergerissen werden, entwickelt sich ein neuer Pragmatismus, der vor allem eines ist: unpolitisch. Als Vorbild, als Orientierung taugen die 68er schon lange nicht mehr. Wohl aber als Kultobjekt. Die 68er erleben ein Revival auf T-Shirts, als Coverversionen in Mode, Design und Medien, als nett verpackte Häppchen in Feuilletons oder in Kulturmagazinen. Hip, wild und vor allem: vergangen.

Nein, mir fehlen die 68er nicht. Mir fehlen weder die Hippies noch die Kommunarden, nicht die Apo und auch nicht die ideologielastigen Diskussionen von begnadeten Rednern, die doch niemand verstand. Fehlt mir vielleicht die Single, die damals noch keine Lebensform, sondern einfach nur eine kleine Schallplatte war, fehlen mir die Schlachten im Bonner Bundestag zwischen Strauß und Schmidt und Wehner und Brand und Dregger? Fehlt mir das rituelle Samstagabendbad mit Schaum und Quietscheente und der anschließende Fernsehshow „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff? Nein, all das fehlt mir nicht. Wie auch? Das alles gehört doch unverbrüchlich zum Archiv der Erinnerung.
Trotzdem, Hellmut „Lederstrumpf“ Langes Sendung „Kennen Sie Kino?“, die könnte doch noch mal wiederholt werden.

01. Flimmern und Rauschen
02. Die Rillen der Revolution
03. Haare
04. Der gute Rausch
05. Zur Sache, Schätzchen!
06. Odyssee im Kino
07. Theorie & Tohuwabohu
08. In Boots nach Summerhill
09. The doors of perception
10. Raubtier und Gefährte: time is fading
20. Literatur
30. Zum Schluss: Rechte und Haftung
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