03. Haare

Samstag, 3. Mai 2008

03. Haare

1968 waren meine Haare genauso kurz wie meine Lederhosen. Damit lag ich durchaus im Trend meines Jahrgangs. Um mich herum aber war die Welt weder folkloristisch noch brav. Um mich herum wuchsen die Haare. Und vor allem wuchs die Zahl derjenigen, die bald als „Hippies“, „Gammler“ oder einfach nur als „Langhaarige“ verschrien wurden. Und so glichen sich die Sprüche der Eltern in ihrer Empörung, verlogenen Scham und sozialen Befangenheit, wenn es hieß: „Du siehst ja aus wie ein Mädchen!“ Kaum etwas anderes konnte wohl die erwachende Männlichkeit der Heranwachsenden mehr und persönlicher verletzen und ihren Trotz und Widerstand herausfordern, als der Versuch, das sichtbarste Attribut ihrer Abgrenzung von bürgerlicher Wohlanständigkeit, ihre Haare, als mädchenhaft zu diffamieren. So wuchsen mit wachsender Kritik am und wachsender Distanz zum Elternhaus auch die Haare.

Und so bestimmten die Jugendlichen mit ihren Mähnen und Matten zunehmend das Kleinstadtbild. Und das Bild draußen und im Fernsehen und in der Welt. Wer „in“ sein, wer seine politische, seine soziale Haltung zum Ausdruck bringen wollte, der brauchte nicht viel mehr zu tun, als seine Haare wachsen zu lassen – dabei wusste er die Zeit auf seiner Seite. Das Musical „Hair“ traf mit der Deutschlandpremiere 1968 in München denn auch genau die Stimmung und den Nerv der Zeit. Die Mode einer Generation war auf der Bühne angekommen. Aber vielleicht war auch schon die Welt selbst zur Bühne geworden. Voller Träume, Widerstände und Haare.
Vielleicht, denke ich heute, war das inflationäre Wachstum der Haare, das bereits Mitte der 60er Jahre langsam, aber ungebremst, oder muss es heißen: ungeschnitten, einsetzte, auch ein rein biologischer Ausdruck des Generationswechsels, der sich damals so sichtbar vollzog. Junge Menschen haben nun einfach mal mehr auf dem Kopf, als ihre Väter. Bereits die Pilzkopffrisuren, die in den frühen 60ern wuchsen, schienen zu signalisieren: hier wächst was, während bei Euch nur alles grau und schütter und kahl wird! Auch wenn oben nichts mehr nachkam, wollten die Alten nicht ganz nachstehen. Also züchteten sie die Koteletten. Eine Haartracht, die eigentlich mehr eine Haarwucherung ist und auf der Skala der Geschmacklosigkeiten gleich hinter dem Minipli und der Vorne-lang-hinten-kurz-Frisur, der sogenannten Vokuhila (die uns in den 80er Jahren dann auch nicht erspart blieb) rangiert. Im Gegensatz zur aufkommenden Langhaarfrisur bei den Männern, die als Protest und „modischer“ Ausdruck politischen Widerstands verstanden werden wollte, entsprachen Koteletten durchaus noch der „political correctness“. (Ein Begriff, den es damals glücklicherweise noch nicht gab, eben weil diese Art heuchlerischer Haltung noch unbekannt war.) Wer sich also noch für jung und fortschrittlich hielt, ohne dabei mit den Zielen der 68er auch nur irgendwie einverstanden zu sein, verschob den Besuch beim Friseur öfter mal und zeigte sein Haupthaar stolz und gepflegt. Das war dann wohl schon in den 70ern, in denen plötzlich selbst ehemals eingefleischte CDU-Wähler mit Koteletten und Günter-Netzer-Frisur einen optimistisch-jugendlichen Linksschwenk vollführten.

Die langen Haare der Männer waren nicht unbedingt ungepflegt. Verwegen aber waren sie in jedem Fall. Beim Haar der Frauen gab es neben einem ungehemmten Wachstum auch zahllose Versuche, ein historisches Schönheitsideal gnadenlos der Schere zu opfern. Die Motive, die für die weiblichen Kurzhaarfrisuren verantwortlich waren, lagen für mich damals ebenso im Dunkeln, wie die Gründe für ihr hemmungsloses Wachstum. Die Frage “Warum?“ existierte im Hinblick auf die Haare junger Frauen in meiner Welt überhaupt nicht. Was existierte, was präsent war und was mich anzog, war allein das, was ich sah: dunkle, glatte Kurzhaarfrisuren, die die Gesichter junger Mädchen einrahmten oder langes Haar, das über die Schultern fiel, den Rücken hinunter, lang und selbstbewusst. Da gab es welche, die sich mit Freunden auf den Bänken oder der Wiese vor der Kirche trafen, die Zigarette lässig zwischen den Fingern haltend, mit einem Blick, der zugleich verträumt, unschuldig und verwegen war. Ich hatte noch keine Worte, geschweige denn Begriffe für das, was ich sah und was mich faszinierte und anzog.

01. Flimmern und Rauschen
02. Die Rillen der Revolution
03. Haare
04. Der gute Rausch
05. Zur Sache, Schätzchen!
06. Odyssee im Kino
07. Theorie & Tohuwabohu
08. In Boots nach Summerhill
09. The doors of perception
10. Raubtier und Gefährte: time is fading
20. Literatur
30. Zum Schluss: Rechte und Haftung
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